Als mein kleiner Bruder wirklich klein war (3 Jahre), verkleidete sich unser Onkel als Nikolaus und kam am 6. Dezember in Papas Bademantel, dicken Stiefeln und mit zwei großen, schweren Büchern in den Händen das Treppenhaus bis zu uns in den zweiten Stock heraufgestapft. Er erklärte meinem erstarrten Bruder, dass in dem schwarzen Buch seine bösen und in dem goldenen Buch seine guten Taten stünden. Um es kurz zu machen: Mein Bruder hat den furchterregenden Nikolaus unbeschadet überlebt – mich aber hat die Vorstellung von solchen Büchern, wo alles über mich verzeichnet ist, nicht losgelassen (ich war übrigens 9 Jahre alt): „Ob Gott wohl solche Bücher im Himmel hat?“ fragte ich mich und beschloss, das schwarze Buch lieber nicht zu einem Wälzer anschwillen zu lassen…

Jahre später begegnete ich dem Psalm 139, wo beschrieben wird, dass Gott überall ist und ich ihm nicht entfliehen kann. Ich persönlich empfinde den Psalm als eine beruhigende Zusage an mich, dass ich nie allein bin. Ich hatte allerdings auch das Glück, nicht durch eine „Theologie“ hindurchgehen zu müssen wie viele andere, in der Gott als der allgegenwärtige und strenge Aufseher, Aufpasser und Bestrafer dargestellt wurde.

In Psalm 69,29 wird Gott vom Verfasser des Psalms gebeten, seine Feinde aus dem „Buch des Lebens“ zu tilgen – wer aus diesem Buch gestrichen wird, muss offenbar sein Leben lassen.

Und heute finde ich in der Tageslosung den folgenden Satz aus dem Buch der Sprüche (19,21): „In eines Menschen Herzen sind viele Pläne, aber zustande kommt der Ratschluss Gottes“. Wenn das so ist, dann gibt es auch keine schwarzen und goldenen Bücher im Himmel, aus denen mir dann dereinst vorgelesen werden wird – denn Gott entscheidet ja sowieso, was mit mir passiert – oder? Ich habe mich schlau gemacht und gefunden, dass der göttliche Ratschluss verstanden werden kann als „verlässliche Wegleitung zum Ziel, der Aufnahme des Beters in Gottes Herrlichkeit“.

Tja – und dann stehen mir so einige Geschehnisse in meinem Leben vor Augen: Wenn es zum Beispiel nach mir und meinen Plänen gegangen wäre, hätte ich Heil- und Sonderpädagogik studiert – stattdessen wurde es nach langem Ringen ein abgeschlossenes Theologiestudium. Wenn es nach mir und meinen Plänen gegangen wäre, hätte ich jetzt vier erwachsene Kinder – wird eng mit 59 Jahren… Wenn es nach mir und meinen Plänen gegangen wäre, würde ich jetzt meinen Dienst in einer völlig anderen Region in Deutschland versehen – stattdessen schaue ich in diesem Moment des Schreibens auf einen wunderschönen begrünten Hof, der sich in einem kleinen brandenburgischen Dorf befindet. Den verehrten LeserInnen stehen sicher eigene persönliche Situationen und Wegscheiden vor Augen.

Es ist im Nachhinein leicht, in den Kursänderungen Gottes Fügungen zu sehen. Aber was ist mit den anderen Dingen, wo eben nicht alles gut wurde? Was ist damit, dass meine beste Freundin mit 48 Jahren aus dem Buch des Lebens gestrichen wurde, als sie ihrem Krebsleiden erlag? Was ist mit Duduzile in Simbabwe, die Tag für Tag darum kämpfen muss, ihre Kinder mit Lebensmittel versorgen zu können? Stand das alles bereits drin in ihren Büchern des Lebens? Auch wenn ihr persönliches schwarze Buch einen wesentlich geringeren Umfang als das goldene aufweisen kann?

Oder sollte ich wie Hiob lieber feststellen, dass ich gar nichts von Gottes „Weltregiment“ verstehen KANN?

Vermutlich bleibt mir allein die Aussicht auf Antworten, die mir dereinst gegeben werden, wenn meine ganz persönlichen Lebensbücher zugeklappt wurden …