Ich stehe auf dem Bahnsteig am Potsdamer Platz und warte auf die S-Bahn. Direkt vor meiner Nase digitale Kurznachrichten auf einem an der Wand angebrachten Bildschirm: Von 50.000 Menschen ohne Wohnung in Berlin ist dort die Rede – die einen in Notunterkünften untergebracht, die anderen bei FreundInnen und Verwandten untergeschlüpft – und die anderen unter Brücken und in Ruinen hausend. Während ich noch darüber nachdenke, wechselt auf dem Bildschirm das Bild – diesmal ist es eine Werbung: „Einen Lebenstraum erfüllen: Transsibirische Eisenbahn“. Die Fahrt soll 3800,00 Euro pro Person kosten. Was für Nachrichtengegensätze – hier die steigende Wohnungslosigkeit, dort eine Luxusreise. In der S-Bahn lese ich die Zeitung: Trump droht damit, den Vertrag über atomare Mittelstreckenraketen mit Russland aufzukündigen – manchmal bin ich so unendlich müde: Habe ich letzte Woche noch in Erinnerungen an die Bonner Friedensdemos geschwelgt, könnte dieser ganze Kampf wieder von vorne losgehen, denn: Wo eventuelle neue Mittelstreckenraketen stationiert werden würden, ist nicht schwer zu erraten – die US-Army hat immer noch ausreichend Militärbasen in Deutschland. Auf der nächsten Seite lese ich dann, dass die AfD ein Beschwerdeportal für SchülerInnen im Internet schalten will, wo diese dann LehrerInnen, die sich nicht an das politische Neutralitätsgebot halten, denunzieren können. Mein Handy röhrt: Eine WhatsApp: Die geflüchtete Frau aus dem Iran, die ich begleite, ist zum zweiten Mal durch die B1-Sprachprüfung gerauscht und total deprimiert – immer noch nicht wird sie arbeiten können. Dabei diskutiere ich mit ihr auf Deutsch über Politik – das geht auch ohne perfekte Grammatik!  Ich schaue auf, weil mich ein Geräusch irritiert: Auf der anderen Seite des Waggons sitzt mir ein Mensch gegenüber, ich kann nicht genau erkennen, ob dieses Wesen männlich oder weiblich oder trans ist: Eingefallen, Haut und Knochen, verwirrter Blick. Dieser Anblick trifft mich bis ins Mark – ich weiß nicht warum, eigentlich müsste ich doch nach Jahrzehnten Berlin „abgehärtet“ sein. Bevor ich dem weiter nachgehen kann, muss ich schon aussteigen und die S-Bahn wechseln. Dort sitzen vier Männer, die gefühlt bis Düsseldorf nach billigem Bier stinken – die Pullen in der Hand ihren Feierabend feiernd. Denen dann in Schöneweide durch Ausstieg entronnen, treffe ich meine Obdachlosenzeitungsverkäuferin, die mir erzählt, dass sie nun rechts statt vorher links vom Eingang des Supermarktes laut polizeilicher Anordnung stehen muss: ??? Zuhause ziehe ich ein Päckchen aus dem Briefkasten: Eine DVD mit den ersten beiden Staffeln der aktuellen Fernsehserie „Babylon Berlin“ und ich lese im Klappentext: „Wachsende Armut und Arbeitslosigkeit stehen im starken Kontrast zu Exzess und Luxus des Nachtlebens und der nach wie vor überbordenden kreativen Energie der Stadt“. Und ich muss genau hinschauen: „Babylon Berlin“ spielt im Berlin des Jahres 1929…