Nach langer Zeit fahre ich heute mal wieder mit der U 6 vom Süden Berlins in den Norden. Immer noch sehe ich die „Geisterbahnhöfe“ vor November 1989 vor mir: U-Bahnhöfe, die sich auf dem Gebiet Ost-Berlins befanden, lagen im Dunkeln, ihre Ein- und Ausgänge zugemauert, manchmal sah mensch, während die „West“-U-Bahn langsam an den brachliegenden Bahnsteigen vorbeifuhr, schemenhaft Menschen mit Uniform und Maschinengewehren. Am Bahnhof Friedrichstraße konnten die Menschen, die in West-Berlin wohnten, von der U-Bahn zur S-Bahn wechseln, die dann in den Westen der Stadt fuhr (sorry, sicher verwirrend für die, die das damals nicht selbst erlebt haben …). Immer noch ordne ich ganz automatisch die jetzigen Stationsnamen in „Ost“ und „West“ ein – fast 29 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Wenn der mennonitische Soziologe, Friedensaktivist und Friedensforscher John Paul Lederach Recht hat, dann dauert die Aufarbeitung eines Konflikts (und ich bezeichne mal die Teilung Deutschlands als „Dauerkonflikt“) genauso lange wie der Konflikt gedauert hat. Es müsste also in diesem Jahr (28 Jahre Mauer und 28 Jahre Deutsche Einheit) alles aufgearbeitet sein, oder??…  Wenn dem so wäre, dürfte die U 6 in meinem Kopf nicht mehr in „Ost“ und „West“ getrennt sein. Wenn dem so wäre, müsste ich es nicht mehr spüren können, dass ich seit nunmehr vier Jahren im „Osten“ der Stadt wohne. Meine persönlichen „Kopfmauern“ sind das Eine, die tiefen Nachwirkungen der falschen Versprechungen von „blühenden Landschaften“ im Osten das Andere. PolitikerInnen, die es damals wagten, auf den steinigen Weg der Aufarbeitung und des Zusammenwachsens hinzuweisen, wurden „weggebissen“. Bereits einige Tage nach dem Fall der Mauer befanden Bürger der DDR auf dem Weg zur Abholung ihres Begrüßungsgeldes,dass „die Ausländer“ (Umschreibung des Originalzitats, das ich nicht wiedergeben möchte) jetzt abhauen könnten, da sie ja nun auf der Bildfläche erschienen wären. Nein, werte LeserInnen, der Rassismus in Gesamtdeutschland (und damit meine ich explizit alle 16 Bundeländer) ist nicht erst 2018 urplötzlich vom Himmel gefallen, wie wir alle wissen. Vieles lag im Argen 1990, als die DDR mirnichtsdirnichts einverleibt wurde – anstatt die Runden Tische zu nutzen, um Deutschland neu zu träumen und zu entwickeln, drängte alles zu den blühenden Landschaften, um sie – bevor sie überhaupt entstehen konnten – abzuwickeln oder hilflos mitansehen mussten, wie sie abgewickelt wurden.

Nein, ich will nicht jammern – ja, 1989 haben es DDR-BürgerInnen geschafft, gewaltlos Widerstand zu leisten. Aber wir alle haben nicht begriffen, dass 1990 zwei unterschiedliche Gedankensysteme einfach zusammengeworfen wurden.

Ich fasse mich an meine eigene Nase: Ich habe mich darauf verlassen, dass „unsere Demokratie“ stabil und die beste aller realexistierenden Demokratien weltweit ist – eben aus der Erfahrung des Zusammenbruchs des Naziregimes heraus entworfen. In die Kategorie „HeldInnen und Vorbilder“  gehören für mich die Mütter und Väter des Grundgesetzes.

Aber eine Demokratie ist nur dann eine Demokratie, wenn sie auch von den BürgerInnen mit Leben gefüllt wird.

„Nur mit Euch“ heißt das Motto der diesjährigen Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin. Ich lasse mal dahingestellt, wer wohl mit „Euch“ genau gemeint sein soll. Gelernt habe ich aber auf meinen fast täglichen Hundespaziergängen mit einer Frau, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, dass das gegenseitige Erzählen von Alltagsgeschichten erheblich zu unserem gegenseitigen Verständnis beigetragen hat.

Es muss endlich zusammenwachsen, was zusammengehören soll – und das geht nur, wenn wir miteinander kommunizieren! Sei es auf Hundespaziergängen, auf „der Straße“, im Parlament und anderswo.

Das mit den „blühenden Landschaften“ war eine bewusst platzierte politische Lüge – die Seifenblasen platzten schnell. Viele standen vor den Scherben ihrer Identät und Existenz.

Manchmal träume ich davon, das Rad der Zeit noch einmal zurückdrehen auf den 9. November 1989 und noch einmal von vorne anzufangen mit einer vorsichtigen Annäherung auf Augenhöhe. Dann gäbe es den morgigen Feiertag so nicht – aber vielleicht blühende Landschaften?…