Mitten in der niederrheinischen Landschaft am Rand von Neuss steht am Wegesrand ein Gedenkstein. Er erinnert an den ehemaligen Friedhof der jüdischen Gemeinde Roselle. Geht mensch den Hain hinauf, findet er/sie einen steinernen Davidsstern. Die hebräische Inschrift ist dem Buch Hiob entnommen und lautet übersetzt: „Bislang kannte ich Dich nur vom Hörensagen, nun haben Dich meine Augen gesehen“ (Hiob 42,5). Auf dem Gedenkstein lese ich: „Auf Initiative von Rosellener Bürgern hat der Kreis Neuss 1992 in Abstimmung mit der jüdischen Gemeinde Düsseldorf und dem Landesrabbiner auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs von Rosellen als Gedenkstätte den Jüdischen Friedhofshain Rosellen errichtet.Den David-Stern im Zentrum der Gedenkstätte hat der Künstler Anatol Herzfeld gestaltet. Das Grundstück stellte die Stadt Grevenbroich zur Verfügung. Der jüdische Friedhofshain ist dem Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger gewidmet.“ Mir reichen diese Informationen nicht, ich würde gerne wissen, warum es keine Grabmäler mehr gibt: Wurde der Friedhof – wie so viele andere – geschändet und zerstört zur Zeit des Nationalsozialismus? Also bemühe ich das Internet und finde auf der Seite des Landschaftsverbands Rheinland folgende Aussage: „Der Begräbnisplatz wurde wahrscheinlich bis 1830 von den Juden von Norf und Rosellen genutzt; vermutlich schon nach 1830 aufgehoben.“ Also keine Schändung – oder doch? Was bewog die Mitglieder der jüdischen Gemeinde 1830, ihre Heimat zu verlassen? Ich lese, dass Juden Mitte des 15. Jahrhunderts aus Neuss vertrieben wurden und sich erst zur napoleonischen Zeit (zwischen 1792 und 1815) wieder ansiedeln durften. Mehr finde ich nicht. Zum heutigen Blog bewogen hat mich dann folgende Aussage: „Die Friedhofsparzelle, die heute auf mehrere Eigentümer verteilt ist, taucht nach 1871 auf keiner Katasterkarte mehr auf. Pracht-Jörns vermutet, dass die Grabsteine versunken und die Begräbnisse noch vorhanden sind.“ (uni-heidelberg.de) Wie gut, dass der steinerne Davidsstern sichtbar macht, dass hier Menschen bestattet wurden! Es finden sich auf ihm auch einige wenige Steine, die Menschen dort abgelegt haben, um ein Zeichen der Erinnerung zu setzen. Erinnerung an Menschen, die sie selbst nicht gekannt haben. Sie sollen nicht wieder in Vergessenheit geraten.

Friedhof – das ist mein Thema dieser Tage: Nachdem seit gestern auf dem Grab meiner Eltern ein neues Holzkreuz steht, auf dem nun auch neben dem Namen meines Vaters auch der Name meiner Mutter eingraviert ist, ist das Private öffentlich geworden. Jede/r kann jetzt lesen, wer dort beigesetzt wurde. Für mich noch einmal etwas Endgültiges – und der Wunsch steigt in mir auf, viel mehr öffentlich mitzuteilen als Namen, Geburts- und Sterbedaten. Zum Beispiel buchstäblich in Stein zu meißeln, dass hier eine Frau liegt, die an den Folgen einer Gewalttat gestorben ist.

Ich muss an die mennonitischen Friedhöfe in Polen denken, die in den letzten Jahrzehnten wieder hergerichtet wurden. Es reicht eben nicht, einen Verstorbenen in Erinnerung zu behalten – Friedhöfe sind Orte der Erinnerung, Grenzgänger zwischen Privatem und Öffentlichem. Deshalb ist Grabschändung auch nach § 168 des Strafgesetzbuches als Störung der Totenruhe eine Straftat, ja, es gibt ein „postmortales Persönlichkeitsrecht“.

Das Schlimmste für die Hinterbliebenen von vermissten Opfern von Gewalttaten ist es, nicht zu wissen, wo die sterblichen Überreste geblieben sind – eines der häufigsten Aussagen, die vor Versöhnungs- und Wahrheitskommissionen gemacht werden ( wie z.B. der Versuch der Aufarbeitung der Gewalttaten während des Apartheidsregimes in Südafrika oder des Genozids in Ruanda). In Simbabwe hat mir eine Frau ein Massengrab von Opfern des Genozids an den Ndebele in den 1980er Jahren gezeigt – mitten im Busch wurde das Private öffentlich und durch die Trauer der Frau das Öffentliche privat.

Erinnerungskultur – nach Astrid Erll der Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte.

Einen der bewegendsten Friedhöfe habe ich auf Lesbos gesehen (Video siehe „Lesbos-Blog“ auf der website des MFB): Menschen haben sich unbekannter Wasserleichen des Mittelmeers erbarmt und sie bestattet. Dieser Friedhof ist weithin unbekannt und mensch muss die Koordinaten haben, um ihn zu finden. Noch haben ihn diejenigen, die diese Art von Erinnerungskultur auf Lesbos ausmerzen wollen, nicht gefunden .Eine Erinnerungskultur mit der Perspektive auf die Opfer scheint für manche bedrohlich zu sein – nicht nur auf Lesbos, nicht wahr, Herr Höcke?