Lange ist er her, der „Kirchentag der lila Tücher“ 1983 in Hannover, mit denen zahlreiche Teilnehmende die Nachrüstungsdebatte zum zentralen Thema machten. Das Motto des damaligen 20. Deutschen Evangelischen Kirchentags lautete „Umkehr zum Leben“ – auf den Tüchern standen ergänzende Sätze wie dieser: „Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja“. Sie ist wieder da, die Zeit für ein Nein ohne jedes Ja – wieder geht es um eine Diskrepanz zwischen Werten und Handeln: Habe ich mich  damals als Theologie- Studentin an der Unentschlossenheit meiner Kirche, sich eindeutig zu Frieden und Gewaltfreiheit zu äußern, heftigst gerieben, bin ich heute wieder  gefordert, mich zu äußern und Position zu beziehen. Im Osten der Republik ( aber nicht nur da) heben Menschen ungestraft ihre Hand zum verbotenen Hitlergruß, jagen in ihren Augen Unliebsame durch die Straßen, machen  Geflüchtete und MigrantInnen zu Sündenböcken, um mit ihren diffusen Existenzängsten klarzukommen. Die Sprache des öffentlichen Diskurses in Deutschland ist immer mehr durchsetzt von rassistischen Konnotationen – und so weiter und so fort …

Als Christin darf ich nicht beim Jammern stehenbleiben – und gleichzeitig theoretisierend vom Frieden reden. Vor mehreren Jahren haben drei Mennoniten (Alan Kreider, Ellen Kreider, Paulus Widjaja) ein Buch geschrieben, dessen deutsche Ausgabe den Titel „Eine Kultur des Friedens. Gottes Vision für Gemeinde und Welt“ trägt. Dort sind u.a. vier „friedensstiftende Fähigkeiten“ beschrieben, die ich auf die oben beschriebene Situation bezogen folgendermaßen deute:

  1. Wahrhaftig reden: Die wörtliche Übersetzung von Epheser 4,15 aus dem Griechischen lautet: „wahrheitend in Liebe….“. Das ist grammatikalisch ein Partizip (auch „Mittelwort“ genannt) und drückt gleichzeitig ein Tun und eine Eigenschaft aus: Seiend und handelnd in Einem. M.a.W.: Wir sind aufgerufen, die Diskrepanz zwischen Werten und Handeln zu überbrücken – eine aktuelle Zeichensetzung ist die Teilnahme an der Demo am 13.10. in Berlin #Unteilbar: Zivilgesellschaftliche Organisationen unterschiedlichster Couleur gehen gemeinsam auf die Straßen Berlins für eine offene und freie Gesellschaft ohne Ausgrenzung. Das Mennonitische Friedenszentrum lädt dazu ein, sich persönlich und kreativ in einem „Menno-Block“ daran zu beteiligen. Der Aufruf zur Demo ist zu finden unter  https://www.unteilbar.org/  
  2. Aufmerksam zuhören: Es ist niemandem damit geholfen, andere zu verteufeln. Ich weiß wie schwer es ist, den kruden und menschenverachtenden Tiraden so manch eines besorgten Bürgers zuzuhören, ohne aus dem buchstäblichen und berühmten Anzug zu springen. Aber wenn ich mich im Zuhören einübe – immer wieder – , kann es mir manchmal gelingen, dort anzusetzen, wo mir wiederum zugehört werden kann: Während einer S-Bahn-Fahrt brüllten sich zwei Männer an, der eine das Klischeebild schlechthin eines ostdeutschen Wutbürgers, der andere ein deutschsprechender Emigrierter, der in seinen agressiven Verbalattacken wiederum auch nicht von schlechten Eltern war. Als ich dann meine Stimme über die beiden Wutköpfe erhob und ihnen zurief, dass sie sich gefälligst zusammenraufen sollten, es gäbe schließlich nur eine Erde und die müsse eben für beide reichen, kühlten sie zunächst mal ab. Am Ende entschuldigten sich beide mehr oder weniger grummelnd … Nicht immer geht so etwas gut aus, aber ich darf als ChristIn ( und mündige BürgerIn) nicht weghören und mich einfach wegducken.
  3. Aufmerksamkeit gegenüber der Gemeinschaft: Der Austausch zwischen den Generationen kann nicht hoch genug bewertet werden – die Tage um den 9.11.1989 mögen wie eine friedliche Revolution gewirkt haben, aber die eigentliche Arbeit, nämlich das Aufeinanderhören und Voneinanderlernen wurde zugunsten der Mär von „blühenden Landschaften“ verabsäumt. Als ChristIn ( und mündige BürgerIn) muss ich alles  versuchen, dass der Gesprächsfaden zwischen unterschiedlich staatlich Sozialisierten nicht endgültig abreißt.
  4. Urteilsfähigkeit der Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortlichkeit: Die Kirche muss Anwältin bestimmter Werte und Prozesse sein  – „Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja“: Rassismus und Nationalsozialismus sind diametral entgegengesetzte Werte zur biblischen Botschaft.

Die Journalistin Gabriele von Arnim formulierte folgenden Satz während einer Laudatio für die „Sophie-Scholl-PreisträgerInnen“ 1992: „Gratismut ist das Privileg der Demokratie, Zivilcourage ist die Voraussetzung für ihren Bestand“.

Wir brauchen wieder Lila!