Gegen 23:00 Uhr am Sonntag, den 22. Juli 2018, als ich gerade meinen Rucksack ausgeleert und die Wäsche in Haufen sortiert hatte, ein kühles Bier in der Hand und in meinem Sessel saß, übergoß eine unbekannte Person in circa 800 Metern Luftlinie zwei schlafende Obdachlose und ihre Habe mit einer Flüssigkeit, zündete sie an und lief unerkannt davon. Nur die Geistesgegenwart eines Imbiss-Besuchers, der den Feuerlöscher des Dönerladens an sich riß, rausrannte und ihn auf die sich auf dem Boden wälzenden Menschen richtete, verhinderte, dass beide sofort zu Tode kamen (beide sind ins Koma versetzt, einer schwebt derzeit nicht mehr in Lebensgefahr). Fotos und Nachricht gelangten gestern abend bis in die bundesweiten 20:00 Uhr- Nachrichten.

Als ich gestern mittag davon aus dem Radio erfuhr, brach ich in Tränen aus. Ich kannte die beiden vom Sehen (jetzt weiß ich, dass sie Lothar und Andy heißen), schließlich hatten sie es sich seit langem auf dem S-Bahnhofsvorplatz Schöneweide so „wohnlich“ wie eben möglich gemacht. Schon früh am Morgen ging es ab mit „Sternburg-Pils“ und anderen Sachen, häufig saßen vier oder fünf Menschen dort zusammen. Stets stand dort ein Becher, in den ab und an PassantInnen ein paar Münzen versenkten. Einer von ihnen hat einen Hund der Marke „Straßenmix“ – mittelgroß, hellbraun, friedlich und völlig entspannt ( dieser Hund ist übrigens seit Sonntagabend spurlos verschwunden). Wie gesagt, ich kannte sie nicht persönlich – aber die Tat geht mir an die Nieren.

In den sozialen Medien (unter Stichwort „Schöneweide“) fand ich dann die ersten Anzeichen von dem, was ich als „Instrumentalisierung“ bezeichnen will:
So schrieb einer, dass die „linksversiffte Presse“ mit Sicherheit mit der wahren Identität des Täters hinter dem Berg halte, es sei doch klar, dass das wieder nur „Ausländer“ und/oder „Asylanten“ getan haben können …
Es wurde zu einer Kundgebung am Montag, den 23. Juli um 18:00 Uhr vor Ort aufgerufen. Ich bin hingegangen (Foto ist dort entstanden) – um zu sehen, wer sich dort einfinden wird. Laut RBB-Abendschau sollen sich ca. 200 Menschen am Tatort versammelt haben. Mir wurde ein DIN A5-Blatt in die Hand gedrückt, auf dem ich die Logos vom „Zentrum für Demokratie“, „Bündnis für Demokratie und Toleranz gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Treptow-Köpenick“ und von „Offensiv’91 e.V., Verein für soziale und kulturelle Dienste für Frauen, Familien, Kinder und Jugendliche“ fand. Schon der erste Satz brachte mich ins Grübeln: Es war die Rede von einem „obdachlosenfeindlichen Mordversuch“. Aber es gibt doch meines Erachtens keinen „freundlichen Mordversuch“ – und in welcher sozialen Situation sich angezündete Menschen befinden, tut doch auch nichts zur Sache, oder? Ich ahne, was die Person, die „V.i.S.d.P.“ (verantwortlich im Sinne des Presserechts) ist, damit alles implizieren will: Dieser Anschlag wurde verübt, weil die beiden Opfer wohnungslos sind. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt erst einmal eine Unterstellung – es kann genausogut eine sogenannte Beziehungstat gewesen sein. Weiter im Text: Dass „Menschenverachtung“ aus dieser Tat spricht, liegt auf der Hand – wer einen Menschen angreift und dessen Tod billigend in Kauf nimmt, hat mit dem Begriff der Menschenwürde, die unantastbar ist laut Grundgesetz, nichts am Hut. Aber mich macht diese Menschenverachtung weder sprachlos noch wütend – sondern die Tatsache, dass dort zwei Menschen bei lebendigem Leibe angezündet wurden, haben mich in Tänen ausbrechen lassen. Erst dann will ich nach dem Täter und seinen Motiven fragen! Der letzte Satz ist leider noch unglücklicher als der erste Satz: Zuvor werden noch einige andere Initiativen erwähnt, die sich im Kiez für wohnungslose Menschen einsetzen. Und dann steht dort: „Unterstützen Sie diese wichtige Arbeit, werden Sie aktiv und zeigen Sie, dass obdachlose Menschen ein selbstverständlicher und wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind!“ Das will ich nicht! Ich will, dass alle ein Dach über den Kopf haben, wenn sie es brauchen. Ich will, dass Obdachlosigkeit als Skandal in unserer Gesellschaft betrachtet wird! Ich will, dass Menschen ohne Obdach, die in kein betreutes Wohnen wollen und stattdessen lieber das Leben auf der Straße vorziehen (ja, die gibt es – und die beiden haben laut Sozialstadtrat von Treptow-Köpenick auch alle bisherigen Angebote abgelehnt), die Möglichkeit haben, ihr Leben so zu gestalten, dass sie nicht nur überleben, sondern leben können.

Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass die InitiatorInnen der Kundgebung drei Gedanken in einen Satz gepackt haben – aber Sprache ist verräterisch! Nun komme mir bitte niemand damit, dass ich als Akademikerin gut reden kann. Das klare und logische Reden haben mir meine Eltern (8 und 9 Schuljahre) beigebracht – da reicht ein solider Grundwortschatz vollkommen aus, denn es geht um die Grundhaltung!

Zurück zur Kundgebung: Ich schätze mal, dass 3/4 der Menschen nicht aus dem Kiez stammten, sondern Mitglieder der Antifa waren und/oder auf dem Rückweg von den umliegenden Hochschulen waren. Das letzte Viertel bestand aus trauernden FreundInnen, die den abgelegten Blumen und der aufgestellten „Sternburg“-Bierflasche mit eigener Flasche zuprosteten, aus AnwohnerInnen wie uns – und aus schwarzen „Old School“-T-Shirts tragenden ortsansässigen Neonazis. Dazwischen dann die Polizei, die genau das erwartet hatte, da bin ich mir sicher. Als ich den Ort verließ, beäugten sich zwar einige, es blieb aber gewaltlos.

Wann und wo und wie ging es eigentlich um die beiden Menschen namens Lothar und Andy? Wo hört Anteilnahme auf und wo beginnt Funktionalisierung eines Ereignisses? Bin ich wegen der beiden in Tränen ausgebrochen, weil ich sie vom Sehen kenne oder weil ich die Tat unfassbar finde oder weil ich eh noch ein bisschen emotional „angefasst“ bin von dem, was ich auf Lesbos gesehen und erlebt habe?

Fragen, die nach meinem Dafürhalten ganz wichtig und unabdingbar sind, Fragen, die ich mir auch stets zu stellen habe.
„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (1. Mose 1,27).